Geschichten: Der schmerzhafte Weg zum Ost-Mobil.

Nun ja, der vordere Reifen fehlte. Das Ding stand auf der Felge - und die war krumm.Immerhin war noch nicht die Rede von einem „Projekt". MZ-Motorräder kannte der Beute-Wessi bereits aus seiner Jugend. Also „kannte" ist vielleicht etwas übertrieben. Er hatte sie im Neckermann-Katalog gesehen. Hier waren sie immer auf den letzten Seiten zu sehen gewesen, gleich neben den POUCH-Faltbooten. Sogar Gespanne hatte es gegeben. Damals, 1976 in Ost-Westfalen, stand ihm der Sinn allerdings nach einem anderen Motorrad. Es sollte zu der Zeit unbedingt eine damalige Neuerscheinung sein, die „YAMAHA XS 360". Blau hätte die werden sollen. Leider reichte das Geld nicht. Eine MZ war damals irgendwie nicht infrage gekommen. Diese Ablehnung war wohl eher eine Frage der unsachlichen Propaganda. Immerhin hatten ihm damals deren Speichenfelgen sogar besser gefallen, als die gerade neu aufkommenden Aluräder der Japaner. Kaum waren rund 40 Jahre ins Land gegangen, eine YAMAHA hatte die nächste abgelöst, da stand der inzwischen weißbärtige Mann aus dem Westen ein Stück hinter Magdeburg, vor der rot-silbernen MZ TS 150. Staubig war sie und traurig anzusehen. Unter dem Staub auf dem Tachoglas kam eine Zahl zum Vorschein. Konnte das sein? Das Motorrad sollte ganze 3155 km gelaufen haben. Die dicke Schmutzschicht verbarg wirklich viel Originalität. Rost und Korrosion waren wenig zu sehen, das Mopped hatte trocken gestanden. Die Plastikbänder, der Mann korrigierte sich innerlich sofort, die „Plastebänder", mit denen die Kabel und Züge am Rahmen befestigt wurden, erfüllten unangetastet am vorgesehen Ort ihren Dienst. Im Scheinwerfer waren noch die vermutlich serienmäßigen Ersatzbirnen und Sicherungen zu finden, liebevoll in Schaumstoff eingepackt, direkt neben dem ebenso stoßgeschützten Blinkgeber. Das sah alles noch genauso aus, als wäre es erst gestern in Zschopau endmontiert worden. Eine Fußraste und der sauber geschweißte Schalthebel dagegen erzählten vom ungewollten Bodenkontakt. Vielleicht wurde im noch jungen Leben der MZ, nach einer Brigadefeier mit Pfeffi-Likör, eine Linkskurve in der weiten Börde vom stolzen Erstbesitzer etwas zu schwungvoll genommen. Einiges an Chrom würde zu ersetzen sein und viele Putzlappen würden benötigt werden. Das erklärte Ziel war eine gut gereinigte MZ, in möglichst authentischem Originalzustand. Technisch zuverlässig sollte sie sein, aber auf keinen Fall überrestauriert. Neuerdings nennen die Oldtimerfreunde das patinarestauriert.
Kurz und gut: Das erste Treffen versprach den Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Vom Optimismus der frühen Jahre getrieben, hatte der neue MZ-Besitzer bereits den Transportanhänger mitgebracht. Also wurde kurz gehandelt und ein ordentlicher Vertrag gemacht, denn Papiere gab es keine mehr. Rauf auf den Anhänger und ab ging die Reise, zurück in die Werkstatt, also in den Garagenkomplex der heimischen Gartenanlage in Halberstadt. Im Rückspiegel sah es ganz so aus, als lächle die MZ im ungewohnten Fahrtwind.
Der nächste freie Tag gehörte der Bestandaufnahme. Längst war in Büchern und Foren recherchiert worden, um welchen Typ es sich nun genau handeln könnte. Antworten auf Fragen wurden gesucht. Wieso sitzt der Tacho in der Lampe und nicht neben einem Drehzahlmesser? Warum gibt es keine Alubrille mit Gummitöpfen? Heißt „Deluxe" wirklich nur, dass ein höherer Lenker montiert wurde? Hat sie den Motor "M1, M2, oder M3"? Es ist wohl doch eher der M1. Fehlende Teile mußten besorgt werden. Der Ersatz für das fehlenden Vorderrad kam aus dem Keller des Nachbarn. Die Freude war kurz, denn dessen Bremstrommel hatte einen Durchmesser vom 150 mm. Die Rote brauchte vorn 160 mm und deren Tachotrieb war auch anders. Also wurde der Ersatz im weltweiten Netz gesucht. So ging das immer weiter. Es gab wirklich viel zu lernen. Während, beispielsweise bei den Japanern aus der Jugendzeit, die Sitzbank einfach ausgeklinkt wurde, mußten bei der MZ etliche Schrauben gelöst werden. Zwei davon waren nur bei ausgebautem Hinterrad erreichbar. „Erst wenn man die Dinge tief sieht, werden sie einfach.", erinnerte sich der Westschrauber an weise Worte seines Lehrmeisters. Bisher waren dem unbedarften Westfalen die verschiedenen MZ-Motorräder eher verwechselbar erschienen. Plötzlich nahm er immer mehr Detailunterschiede wahr. Es gelang ihm immer besser, die einzelnen Typen im Vorbeifahren zu bestimmen. Beim Autofahren hatte er sich schon ertappt, wie er grüßend die Hand gehoben hatte. Leichter wurde es dadurch allerdings nicht. Irgendwann war der Tag gekommen. Alles war geputzt worden und ein halber Eimer des abgekratzten, wertvollen Bodens der Magdeburger Börde, mit 99 von 100 Bodenpunkten, lag unter der Maschine. Vieles war überholt worden und der Motor sollte erweckt werden. Alle Vorbereitungen waren penibel getroffen. Der Tank war im Inneren mit vielen Tricks und etwas Chemie entrostet worden.

Der hoffnungslos verharzte Vergaser hatte gefühlte Wochen im Ultraschallbad verbracht - um dann doch ausgetauscht zu werden. Eine originale Isolator-Kerze aus altem Lagerbestand wurde montiert. Zündspule und Kondensator waren nach alter Kunst geprüft worden. Die neuen, „alten" Kontakte hatten 0,6-er Abstand. Der Zündzeitpunkt "3 mm vor OT" stimmte hinlänglich. Der, aus einer alten Isolatorkerze abenteuerlich gebaute Kolbenfinger mit Skala, hatte das bestätigt. Die Kompression war gefühlt gut. Viele Details waren gewissenhaft instand gesetzt worden. Das Lenkradschloß und das Schloß vom Werkzeugfach waren erneuert worden. Der große Gummidichtring des Deckels auch. Das Kickstarter-Gummi war ebenso neu und mit etwas Siliconöl aufgeschoben worden. Ein Fehler, wie sich noch zeigen sollte. Nun kam es darauf an. Eine Flasche Rotkäppchen-Sekt stand zur Feier des Erfolgs etwas abseits. Also los: Schlüssel rum. Die neue Batterie ließ die Kontroll-Leuchten im Tacho rot/grün strahlen. Benzinhahn
auf, kurz geflutet und „druff". Keine Reaktion. Kaltstarter gezogen. Noch einmal „druff". Null Reaktion. Beim dritten Versuch erklang das erwartete „Däng, Däng", das kurzzeitig in ein „Räng-däng-däng" mündete und dann erstarb. Es erstarb, als sei es für immer. Viele Versuche folgten. Zündfunke und Vergaser wurden kontrolliert. Kein Erfolg. Bremsenreiniger nebelte in den Ansaugkanal. Kein Erfolg. Es gingen Stunden und Tage in verschiedenen Versuchen und Misserfolgen auf. Auf die große West-Ost-Liebe legte sich ein dunkler Schatten. Der Tiefpunkt der Beziehungskrise wurde erreicht, als bei einem der Kickversuche der Fuß vom neuen, noch leicht öligen Kickstartergummi abrutschte. Zugleich ließ eine unkontrollierte Verpuffung den Kickstarterhebel zurückschnellen. Der leicht bekleidete Schrauberfuß wurde gegen die immer noch verbogene Fußraste geschnellt und büste dabei den Zehennagel des Hallux, des „großen Onkels" ein. „Yamahas hatten EStarter", schoss es dem Restaurator blitzartig durch den Kopf, bevor der Schmerz ankam. Die folgenden, sehr lauten und unflätigen Worte des Testpiloten können hier nicht wiedergegeben werden, waren aber bis in die nahegelegene Gartenanlage zu hören. Von hier näherte sich, sehr gemächlich, ein neugierig gewordenen Mann in den 70ern. Ein Rentner, vom Typ „gelernter DDR-Bürger". "Watt machste denn man bloß, Junge?", wurde der nur wenig jüngere, weißbärtige Westimport gefragt. „Ick hör det schon die janze Zeit.“, folgte noch. „Die Simmerringe sind hart (er sagte es: hatt), die vonne Kurbelwelle. Die sind zu alt. So wird det nüscht, kannste glauben." Mit einem sauberen Verband am Fuß und blauem Zeh wurde ein paar Tage später der Motor geöffnet und gespalten. Was in der original nachgedruckten Reparaturanleitung so einfach ausgesehen hatte, stellte sich als Herausforderung dar. Alle Yamaha-Erfahrungen konnten getrost ausgeblendet werden. Nur mit der Hilfe vom Nachbarn Peter, einem weiteren Schrauber im Rentenalter, konnte das Projekt gewagt werden. „MZ-Motor? Das mach ich dir bei Nacht, mit 40-Fieber. Ham wa früher als Fingerübung jemacht.", war die Antwort auf das West-Ost-Hilfeersuchen gewesen. „Leg Holz auf und mach mal den Werkstatt-Ofen an." Auf die Frage, ob Kaffee, Tee oder Glühwein aufgesetzt werden sollte, war die knappe Antwort: „Quatsch, wir brauchen 100º C, für den Lagersitz. Aber ein Radeberger kannste kaltstellen." Es folgten einige Ost-West-Lehrstunden in Improvisation und Zweitakt-Motorenkunde. Spezialwerkzeug gab es nun mal nicht. Nach 4 Stunden lag der Motor fertig auf der Werkbank. Mit neuen Wellendichtringen, den Braunen. Beim Öffnen des Kurbelgehäuses war denn auch rund ein halber Liter stark verdünnten Getriebeöls aus dem Kurbelgehäuse geflossen. Das gehörte hier absolut nicht hin. Der Zustand von Lager, Kolben und Zylinder hatten sich dagegen als gut herausgestellt. Wie der Tacho es gezeigt hatte: nur 3155 km Laufleistung eben. Der Rest ist schnell erzählt. Der Motor wurde eingebaut. Alle Anschlüsse vorgenommen und alle zum Ausbau demontierten Teile wieder angebracht. Ab hier wiederholt sich die Geschichte in Teilen: Also los: Schlüssel rum. Die neue Batterie läßt die Kontroll-Leuchten im Tacho rot/grün erstrahlen. Benzinhahn auf, kurz geflutet und „druff". Keine Reaktion. Noch einmal, „druff". Es erklingt das erhoffte „Däng, Däng". Das geht kurz danach, nach einigem Hüsteln in ein „Räng-däng-däng" über und wird tatsächlich immer stabiler. Die Sonne scheint ins Garagentor und die MZ zweitaktet vor sich hin. Gut, der Schwimmerstand im Vergaser mußte noch penibel eingestellt werden. Ob die Schiebernadel im Vergaser nun auch wirklich in der zweiten Nut von oben...? Das ist zunächst egal. Der Schrauber sitzt im alten Campingstuhl, hat einen Fuß hochgelegt, sieht und hört ihr zu. Die Liebe wächst erneut. Der Rotkäppchen-Sekt perlt endlich und die Welt ist in Ordnung. Morgen noch zum TÜV und dann geht es los. Der Osten kann so schön sein und der Yamaha-Osten ist schließlich so weit weg. Beim zweiten Glas Rotkäppchen-Sekt taucht plötzlich ein ganz neuer Gedanke auf: „Stimmt, Trabis haben ja auch einen E-Starter."